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Blut und Wasser


ganz so schlimm wie im Film "Festen" war's nicht.

Wenn ich jetzt kein Bier hätte, würde ich vermutlich vor Zorn sterben oder jemanden umbringen.

Familie kann man sich nicht aussuchen – und noch weniger deren Freunde.

Nachdem ich in den ersten fünf Minuten nach Eintreten in die gute Stube von meinem Onkel bereits lautstark als linkes Saupack beschimpft wurde, weil ich für das neue Energiegesetz gestimmt habe und daraus keinen Hehl mache, stand ich schon kurz davor, wieder zu gehen.

Aber ich habe ja erst gerade das Bier bekommen und schliesslich sind wir Familie, da läuft man nicht einfach weg, also „reden wir einfach nicht drüber“.

„Genau, reden wir besser über den Lehrplan 21!“ schallt es prompt aus einer anderen Ecke. Perfekt. Ich hüte mich davor, auch nur einen einzigen Mucks von mir zu geben – ich studiere Lehramt und glaube zu wissen, warum dieser Lehrplan, wenn auch nicht makellos, doch immerhin notwendig ist – genau so sehr, wie das alle mir bekannten Lehrpersonen tun. Die Sprechende behauptet nun genau Gegenteiliges, „...sogar die Lehrer finden den Plan alle schlecht, auch die haben gesagt, der mache keinen Sinn und den brauche es nicht, zum Glück haben wir keine Kinder mehr, haha! Da müssen wir uns das nicht mehr antun.“ Zustimmendes Gemurmel, niemand weiss genau, worum es geht, das Interesse ist schmal. Ich nehme ein paar grosse Schlucke aus meinem Bier, um mit jedem einen Haufen Gegenargumente runterzuspülen, die mir schmerzhaft in der Kehle brennen.

In dieser Welt hier gibt es nun mal nur Lehrer und keine Lehrerinnen.

In dieser Welt hier ist alles, was neu ist, schlecht.

In dieser Welt hier ist alles, was unbekannt ist, böse.

Es ist nicht wichtig, dass diejenige, die erzählt, keine Ahnung hat, für welche Stufe der Lehrplan 21 gedacht ist und was er beinhaltet.

Es ist nicht wichtig, was in der Schule passiert, solange die eigenen Kinder nicht mehr drin sind.

Es ist nicht wichtig, was in der Welt passiert, solange die eigene so bleibt, wie sie ist.

Ein unschön holpriger Wechsel vollzieht sich und das Gesprächsthema wandert vom verhassten, jedoch gänzlich unbekannten Lehrplan 21 über die ebenso fremden und mystisch verhassten Kopftücher* zu den Ferien des befreundeten Pärchens in Marokko. „Dort mögen sie diese Kopftücher auch nicht, kann ich euch gleich sagen! Die sagen selbst, da gehört dieses Pack nicht hin.“

Dass keinem der anwesenden Gäste die himmelschreiende Ironie, ja die an satirische Meisterleistung glänzende Lächerlichkeit dieser Erzählung auffällt, versetzt mich in einen inneren Zustand des tiefsten Zynismus’. Ich fühle den Hohn in mir brennen und trinke mit einem verachtenden Funkeln in meinen Augen mein kaltes Bier, jeder Schluck ein Versuch, die brennende Wut zu löschen, doch es sind Tropfen auf den heissen Stein, den ich einigen gerne mal heftig ins Gesicht schlagen würde.

Eine kurzweilige Erleichterung in Form meiner Cousine und ihrer zwei Söhne trifft ein. Meine Neffen zweiten Grades sind ganz okay und wie alle Kinder: gewachsen. Eigentlich kann ich nicht besonders viel mit Kindern anfangen, aber die beiden sind die Einzigen, mit denen ich unverfänglich reden kann, ohne nach einer halben Minute das Bedürfnis zu haben, ihnen die Augen aus dem Gesicht zu kratzen. Vielleicht, weil sie noch nicht wissen, dass ich das linke Saupack der Familie bin.

Doch das Glück währt nicht lange. Das Bier hat mich weichgemacht und ich rede wieder, versuche unverfänglich zu bleiben, doch natürlich gelingt es nicht. Wir reden über Social Media, immerhin ein einigermassen unverfängliches Thema. Doch irgendwie kommen wir zu Frauen und Männer, zu Unterdrückung, oder, wie es mein Gegenüber auslegt: Zu den „...zahlreichen Vorteilen, die ihr Frauen habt.“ Ich werde laut und merke, dass es nichts bringt, „Männer sind stärker, die Natur wollte das so, das ist natürlich...“. Ich werde rot, ich explodiere gleich. Wir verdienen 20% weniger. Wir werden benachteiligt. „Aber ihr müsst ja auch nicht ins Militär.“

Ich will kein Bier mehr, ich will hier nur noch weg.

Das sind keine Diskussionen, es sind nicht mal Gespräche.

Es ist nur Blödsinn und Unwissenheit, keine Argumente, über die man sich Gedanken gemacht hat. Eigene, weitreichende, ehrliche Gedanken.

Es sind nur emotional aufgeladene Sätze gegen alles und jeden, der mit Veränderung droht und sei es nur durch den Zugang zum freien Denken und eigenen Meinungen.

Den Rest des Abends halte ich meinen Mund, einmal noch erwähne ich am Rande einer Erzählung, dass nicht alle Deutschen scheisse sind und dass es auch Schweizer Arschlöcher gibt.

Dann gehen wir auf mein Drängen nach Hause, ich verabschiede mich von allen und wünsche alles Gute, „hebet Sorg“ und umarme meinen Onkel. Denn er ist schliesslich mein Onkel und wird es auch bleiben. Blut ist dicker als Wasser. Nur manchmal braucht’s mindestens Bier, um die Lücke zwischen mir und euch zu überbrücken.

*Wir befinden uns auf dem Land, Kopftücher sind eine Seltenheit, ausser bei älteren, einheimischen Bauersfrauen.

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