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Nacht


Eine neue Nacht, nach unzähligen anderen durchgetanzten, vollgeschwitzten und erlebnislosen Massenbesäufnissen. Ein Pflotschregen trieft vom Himmel, die Weihnachtslichter glimmen müde vor sich hin und alles in diesem Jahr ist nur noch alt. Der Weihnachtsmarkt halb abgebaut, die Läden leergekauft und dreckverschmiert.

Ich gehe rastlos durch die Straßen der Stadt und schotte mich ab, eine Kapsel Überlebenswille aufbewahrt im tiefsten Loch der ausweglosen Trübsalblaserei.

Die dunklen Beats wummern durch die Kopfhörer in meinen Schädel als einzige Einheit mit Restsubstanz.

Ausgelutscht, aufgeplatzt und zerlaufen steh ich auf dem nassen Teer und warte auf Anschluss, Aufwachen, Neuanfang und Ende. Die Zeit steht nicht still, nur weil ich es tue. Und nichts passiert, nur weil ich es will.

Gefühlsverdreckt, vollgelabert und überbewertet: Das bin ich – im Glitzerdress an der Bar. Und irgendeiner will wissen wer ich bin.

Dasselbe Lied wie immer.

Aber ich spiel da nicht mehr mit. Ich kann dir nicht sagen wer ich bin, weil ich es selber nicht weiß. Mein Name ist doch nur Hülle um ein großes Nichts. Was bringt mir dein Name, wenn dahinter nur Stumpfsinn sitzt.

Scheisskonversationen an Scheisspartys an Scheissorten in Scheisskleidern.

Ich war mal das Materia Girl, das sich in dich verliebt, weil du die Maske der Gesellschaft angezogen hast und sie dir gut stand. Abend für Abend auf der Suche nach Menschen, die mir zeigen wie ich Teil von etwas werde, wovon ich noch nicht mal wusste was es war.

Ich will deinen Namen nicht wissen, nur damit ich ihn beim Sex schreien kann.

Ich hab genug davon darüber zu reden, was ich studiere, und aha, Kunst, das sei aber interessant, was ich denn dann konkret machen will, wenn ich fertig bin?

Ich hab genug davon, dir Fragen zu beantworten, wie zum Beispiel, woher ich komme und aha, ob ich dann Melanie oder Jochen kenne? Ich will nicht über das Wetter reden, jeder sieht, dass es schneit.

Ich will nicht reden, nur weil ich nicht still sein will. Ich will nicht reden, denn nichts was man sagt, hat hier noch Substanz.

Nach etlichen Konversationen an leeren Tischen, mit ausgebrannten Seelen, mit schweren Schicksalen und leichtem Schwips, nach überschwänglichen Rotweinreden und harten Schlägen, nach sämtlichen Ideologien, Theorien und Lösungsansätzen, nach Tatsachen und Feststellungen, nach Erkenntnissen und Fehlschlägen, nach all dem unnötigen Gelaber vor, während und nach jedem Slam, nach harten Geschichten und krassen Stories, nach tausend verschenkten Visitenkarten und fusselig geredeten Mündern, nach diesem Abend, hier an dieser Tramhaltestelle, unter genau diesem Lichtkegel und genau in dieser Sekunde habe ich meine Wörter aufgebraucht.

Die Lippen versiegelt, der Geist verschlossen, die Augenbrauen zusammengezogen steh ich hier und hasse mich selbst. Hasse mich dafür, dass ich genauso gut eines der Mädchen sein könnte, dass sich über den Penner lustig macht, der gerade mit einem Kinderwagen voller Puppen ins Tram steigt und die Hose unter dem blanken Arsch hängen hat. Hasse mich für den Gedanken, dem Mann, der mir ins Gesicht sieht und lächelt in seines zu spucken. Hasse den Behinderten, weil die Tram jetzt eine zweiminütige Verspätung hat, hasse die Menschen, die dasselbe denken und mich, weil ich das auch tue. Hasse den Gedanken daran, dass wir alle nebeneinander und nicht miteinander leben, hasse mich dafür, dass ich alle hasse und renne im Geiste einfach nur noch weg.

Ich hasse mich dafür, dass ich nicht weiß, was ich tun soll. Weil mir Reden nichts mehr bringt an diesem Punkt, weil auch Worte mir nicht mehr weiterhelfen können. Weil nichts, aber auch gar nichts jetzt gerade richtig wäre. Die Zeit steht nicht still, nur weil ich es tue. Und nichts passiert, nur weil ich es will.


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